Eins Zwei Drei Vorbei

von Frauke Jacobi

Regie: Antonia Brix
Ausstattung: Margrit Schneider
Musikkomposition: Simon Ho
Dramaturgie: Sonja Karadza
Licht: Bernhard Ott , Hanna Rebstock
Technische Leitung: Bernhard Ott
Technik: Hanna Rebstock, Aaron Andersen
Schneiderei: Gisi Kinsky

 

Es spielen:
Kirsten Trustaedt – Kümmel,
Daniela Mohr,
Christoph Müller

Presse

Badische Zeitung           30. September 2013

 

Das Bett des Lebens und des Sterbens


Antonia Brix inszeniert im Freiburger Kinder- und Jugendtheater die
Uraufführung von Frauke Jacobis Stück "Eins Zwei Drei Vorbei".
Frauke Jacobis Drei-Personen-Stück "Eins Zwei Drei Vorbei" ist ein szenisches
Exerzitium in Minimalismus, rigoros wie das Spätwerk Becketts. In diesem Stück ist alles
wesentlich, weil es nichts Überflüssiges gibt, die Sprache ist ausgeweidet – was an
Dialogen übrigbleibt, ist ein dürres Skelett aus Worten. Und zwischen den Worten eine
ungeheure Stille. Eine solche Vorlage erstmals zu inszenieren, ist Wagnis und Chance.
Wagnis, indem gerade hier die dramatische Fallhöhe hoch ist; Chance, weil diese
Vorlage die Regie herausfordert, das Skelett aus Worten mit Licht und Ton, Musik und
Bühnenbild, Kostümen und Requisiten zum Leben zu erwecken. Die Uraufführung im
Freiburger Theater im Marienbad in der Regie von Antonia Brix verwandelt ein
vermeintliches Nichts an Handlung in eine Parabel von kolossaler Strahlkraft.
"Eins Zwei Drei Vorbei" nennt das fragilste dramatische Dreieck beim Namen, das es
gibt – die bürgerliche Kernfamilie aus Vater, Mutter, Kind, wahrlich ein Abgrund an
Konflikten und Tragödien. Jacobis Szenenbogen, bar jeder Psychologisierung, hat dem
klassischen Dramenstoff alles Tragödientaugliche ausgetrieben, hat Werden und
Vergehen der bürgerlichen Familie auf eine Fabel von durchtriebener Einfachheit
reduziert. Ein Mann lernt eine Frau kennen. Sie haben ein Kind. Das Kind wird
erwachsen. Das Kind verlässt die Eltern. Der Vater stirbt. Die Mutter geht dahin. Das
Kind kehrt zurück. Gezeiten des Lebens, Kreis der Jahreszeiten, Zyklus der Biographie.
Für dieses Kreismodell hat Margrit Schneider ein kongeniales Bühnenbild gefunden, das
die Inszenierung trägt: ein riesiges Karree aus Steppdecken als eine Art Bett des
Lebens, Ort des Schlafs und der Zeugung, Geburt und Tod. Wie Mann und Frau sich zu
Beginn aus den Schichten dieser Bettdecken schälen und als Personen erst geboren
werden, wie sie am Ende wieder in die Tiefen dieses Bettes eintauchen, in einen
endgültigen Schlaf, der kein Erwachen kennt: Das gehört zu den szenischen
Höhepunkten dieser an Höhepunkten reichen Aufführung.
"Ich bin allein": Christoph Müller spielt den Mann-Vater als einen traurig-
melancholischen Routinier der Einsamkeit, zwanghaft mit Zählen und Messen
beschäftigt, als könnte die Zahl die Welt mit ihren verwirrenden Phänomen ordnen. Mit
dem Auftritt der Frau-Mutter ist es Frühling geworden: Daniela Mohr belebt die Szene
mit einem neuen Ton, Musik ertönt, Tanzschritte, Luftküsse fliegen hin und her. Der
Sommer gehört dem Kind. Kirsten Trustaedt-Kümmel hat den schwierigsten Part in
diesem Dreieck; das Kind, das sie spielt, peilend zwischen Bedürftigkeit und
Aufsässigkeit, mal Wildfang, mal Göre, mal raffiniert und berechnend, mal arglos und
lieb, dieses Kind ist bei ihr ein Wesen von androgyner Zartheit – immerhin sind sich
selbst die Eltern des Geschlechts ihres Kindes nicht sicher: "Sie will trinken. Er hat
Durst. Er ist brav. Sie ist wild. Er ist lieb. Sie ist lebendig."
Im Herbst, das Kind ist erwachsen geworden, zerreißen die Familienbande; statt
Abschiedsrhetorik eine Dialogstafette von exemplarischer Lakonie: "Ich gehe. – Wohin?
– Weg. – Weit? – Weit. – Nicht zu weit. – Kommst du wieder? – Vielleicht." "Ihr seid
alt", es klingt, als hätte das Kind ein vernichtendes Urteil über die Eltern gesprochen.
Der Winter besiegelt Sterben und Vergehen der Eltern. Das letzte Wort gehört dem
Kind, das kein Kind mehr ist, das jenes Gelände – "schöner leerer Platz" – in Besitz
nimmt, wo alles begann. Es ist wieder Frühling geworden. Ein Kreislauf hat sich
vollendet.
Antonia Brix ist mit ihrer phänomenalen Inszenierung das scheinbar Unmögliche
gelungen: Sie gewinnt aus extremer Reduktion Weite – szenische Weite,
atmosphärische Weite, thematische Weite. Das Skelett aus Worten wird unter ihrer
Regie zu einem wohlgenährten dramatischen Körper, der atmet und höchst lebendig ist.
Simon Hos Musik öffnet der Szene einen Echoraum, das Licht erschafft für die
Jahreszeiten eine schier physische Präsenz, das Gold des Spätsommers und das
Frostweiß des Winters.
Drei Biografien skizziert dieses Stück, gezirkelt um die Fragen nach Familie, Kindheit,
Elternschaft. Wie ein Kind begleiten, ohne es in Fürsorglichkeit zu ersticken? Wann ist
der Zeitpunkt erreicht, es in die Selbständigkeit zu entlassen? Fragen wie diese werden
nicht theoretisch eingekreist, aber gleichwohl gestellt, indem sie in ein oft stummes
Spiel überführt werden. Das familiäre Dreieck findet sich bei Antonia Brix nicht zum
dramatischen Labor zugerichtet, sondern in einem Phantasieraum, "Unten Boden. Oben
Himmel. Bodenhimmel. Himmelboden." Da ist viel Platz für Zauber und Geheimnis,
zwischen Bodenhimmel und Himmelboden.

Hartmut Buchholz